Nachruf Msia Gwenzadse

31.12.1941  † 16.10.2024

Die Germanistinnen und Germanisten Georgiens trauern um das Gehen von Frau Prof. Msia Gwenzadse, einer ausgewiesenen Germanistin, Linguistin und DaF-Wissenschaftlerin, die mit ihren Arbeiten in Georgien und in Deutschland bekannt war. Ihre Habilitationsschrift, gewidmet dem Problem der Textsorten im Deutschen, war in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine innovative Pionierarbeit, die überaus wichtig war für die weitere Entwicklung der Germanistik - der Textlinguistik und der DaF-Forschung der Textsorten in Georgien.
Msia Gwenzadse unterrichtete Generationen von Germanistikstudierenden am Fremdspracheninstitut, Teil der heutigen Staatlichen Ilia Universität Tbilissi. In den schwierigen Kriegsjahren unterrichtete sie auch bei uns, am Lehrstuhl für deutsche Philologie der Staatlichen Ivane Javakhishvili Universität Tbilissi. Ihre große Kompetenz, ihre liebenswerte Art des Umgangs mit KollegInnen und Studierenden, ihre große Hilfsbereitschaft und ihr Sinn für Humor zeichneten sie aus unter allen Germanistinnen und Germanisten an beiden Universitäten sowie unter Kolleginnen und Kollegen in Deutschland, die sie kannten oder mit denen sie befreundet war.
Wir haben uns in den dunklen neunziger Jahren angefreundet, als meine ganze Familie, auch mein damals kleiner Sohn sie fast jeden Abend bei uns erwartete, oder wir besuchten sie, da sie in der Nähe von uns lebte und dazu noch einen Hund hatte, dem sie einen georgischen Männernamen gab und ihn wie Familienmitglied behandelte. Mein Sohn, begeistert von meiner Freundin und ihrem Hund, sagte jeden Abend, er gehe nun zu Msia, so gewöhnlich wie zu einer Freundin von ihm.
Unvergesslich ist ihr leises Lächeln, ihr Gefühl für wohlwollenden Humor, mit dem sie Tiere, Kinder und Erwachsene behandelte, immer bereit zu helfen, zu trösten und zu unterstützen. Sie war die erste und aufmerksame Leserin von wissenschaftlichen Beiträgen, die ich damals schrieb. und von meinen kreativen Versuchen, Texte zu schreiben, die mir halfen, schwere Zeiten zu überstehen.
Ihrer Cousine Manana, die ihr das ganze Leben lang beistand, sowie ihren Schülerinnen und Schülern, ihren georgischen und deutschen Freundinnen und Freunden will ich mein tiefes Mitgefühl aussprechen.
Ich persönlich habe mit ihrem Gehen eine meiner nächsten, meiner treuesten und liebsten Freundinnen verloren.
Am 24. November erweisen wir, die Hinterbliebenen, unserer Freundin zum 40. Tage nach ihrem Tod die letzte Ehre und bewahren ihr für viele Jahre ein ehrendes und liebevolles Andenken.
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Für meine Freundinnen
Du stehst am Fenster und siehst den Frühling kommen,
am frisch bedeckten Gras auf Beeten,
an bunten Kleidern junger Menschen auf der Straße,
an alten Tapetenmustern deines Zimmers, krass und farbig von der Sonne.
Du siehst ihn kommen am belebten Blick des blauen Porzellanvogels,
der dich anstarrt. Anders als sonst.
Nur die Haut an deinen Händen, dünn als Pergament verblichen, blüht nicht auf.
Auch wenn sie dein Verwelken verrät,
fortwährend, unabwendbar, ist es nicht die einzige Wirklichkeit,
in der du lebst – solange du noch den Gesang der Seen, Wälder, Berge und der Sterne hörst,
solange du noch die Schöpfung voll erblühen siehst.
Lali Ketsba-Khundadze
Msia Gwenzadse war, auch international gesehen, eine der wichtigsten Stimmen der georgischen Germanistik und ein wunderbarer, einzigartiger Mensch. Ihre Interessen gingen weit über ihre sprachwissenschaftlichen Spezialgebiete hinaus. Sie war neugierig im besten Sinne und engagierte sich in vielfältiger Weise – stets bescheiden und ohne Aufheben um ihre Person zu machen.
In bester Erinnerung ist mir Msia Gwenzadses Engagement für die vom DAAD geförderte Germanistische Institutspartnerschaft zwischen Tbilisi und Saarbrücken, in deren Rahmen wir uns vor über zwanzig Jahren kennenlernten. Msia Gwenzadse und ihren Kolleginnen und Kollegen haben die beteiligten Universitäten viel zu verdanken.
Besonders gerne denke ich an gemeinsame Stunden an beiden Orten zurück, an den wissenschaftlichen Austausch wie an private Begegnungen: Unvergessen ist mir Msias besonderer Humor, der mit einer brillanten Scharfzüngigkeit einhergehenden konnte. Dabei blieb Msia stets ein Mensch mit einem großen Herzen und untrüglichem Gespür für ihre Mitmenschen.
In den neunziger Jahren, oft ohne Strom und Wasser, war Msia für ihre Kolleginnen da – und ihre Kolleginnen für sie. Gemeinsam gaben sie einander Hoffnung in Zeiten existentieller Herausforderungen. Unter schwierigen Bedingungen betrieb Msia Gwenzadse weiterhin Wissenschaft auf hohem Niveau; dabei war sie keine Freundin von Kompromissen.
In den letzten Jahren wurde es ruhig um sie; sie verschwand allmählich aus dieser Welt, umsorgt von ihrer Cousine Manana. Doch Msia Gwenzadse hinterlässt vielfältige Spuren: In den Erinnerungen ihrer Studentinnen und Studenten, Kolleginnen und Kollegen, und in den Herzen vieler wird sie weiterleben. Und könnte sie diesen Text lesen, würde ihr vielleicht ein letztes ”Waime!” entfahren.
Frank Thomas Grub, Uppsala
Eine gute Wahl: Bei einem Treffen des „Deutschen Akademischen Austauschdienstes“ 1995 in Bonn entschied ich mich für eine Germanistische Partnerschaft meines Saarbrücker Lehrstuhls mit der Staatlichen Iwane-Dschawachischwili-Universität Tbilisi. Georgien also: mythenumrankt, am Fuße des mächtigen Kaukasus gelegen, obendrein die Geburtsstätte der Weinrebe und geprägt von betörenden Frauen und wilden Männern. So mögen meine Gedanken gewesen sein.
Dabei war ich, Jahre zuvor, bereits einmal am Orte gewesen. Die Wasserballmannschaft aus Leipzig, der ich angehörte, war, noch zu Sowjetzeiten, nach Grusinien gereist, hatte gegen „Dynamo“ gespielt und, natürlich, verloren: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“, war über dem Eingang zum Stadion zu lesen. Wir hatten verloren: kein Wunder, denn der Schiedsrichter stammte auch aus Georgien. Man hätte keinen neutralen Referee gefunden, hieß die lakonische Auskunft der Gastgeber. Immerhin schoss ich zwei Tore. Am Abend flossen Wein und Wodka in Strömen, bog sich der Tisch unter lukullischen Köstlichkeiten. Georgier wissen zu feiern!
An den Flughafen erinnerte ich mich noch, als die Maschine 1997 landete. Die Gastgeber empfingen unsere kleine Delegation überaus herzlich, brachten uns in unser bescheidenes Domizil und nur der fortgeschrittene Abend verhinderte, dass sie zu einem, wie sie meinten, bescheidenen Buffet einluden. Das wurde uns dann am Folgeabend beschert. Zuvor freilich waren ausufernde Reden zu erdulden, die die Freundschaft zwischen Georgien und der Bundesrepublik Deutschland priesen, das kleine Land am Südhang des Kaukasus in den schönsten Farben zeichneten und eine feste und unverbrüchliche Zusammenarbeit in Lehre und Forschung ankündigten. Die „lieben Freunde“ aus dem Lande Goethes und Schillers seien seit Jahren erwartet worden. Ich scheute in meiner Erwiderung das Pathos, versprach jedoch Kooperation und Hilfe.
Die Vorlesungen und Seminare zu Themen der Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft an der Universität verliefen erfreulich: Das Interesse an aktuellen Fragen der Linguistik war enorm, in historischen Fragestellungen kannten sich die Teilnehmer-zu neunzig Prozent Frauen- freilich weit besser aus.
Msia Gwenzadse leitete den Lehrstuhl: ungeheuer beschlagen, äußerst bescheiden im Auftreten, von bezwingender Freundlichkeit. Unsere Gespräche gewannen täglich an Tiefe und Intensität. Mit anderen Kolleginnen wechselte sie sich bei den Spaziergängen ab, um mir das traditionelle und das moderne Tbilisi näher zu bringen. Besonders die Schwefelbäder, in denen bereits Alexander Puschkin während seiner Verbannung entspannt hatte, beeindruckten mich, daneben das Konservatorium, an dem, vor Jahrzehnten während der deutschen Okkupation der Sowjetunion, Svjatoslav Richter lehrte.
Zum Wochenende schlug Msia Gwenzadse einen Ausflug in den Westen vor, ins Land der Kolchis. Barbara Wattendorf, ihre enge Freundin und DAAD-Lektorin am Ort, plante die Reise, die uns jedoch, zu meiner vollkommenen Überraschung, zunächst nach Gori führte, Geburtsstadt Josef Wissarionowitsch Tschugaschwilis, der sich Stalin nannte. Was mich erwartete, war ein riesiges Gebäude, in dem die Sowjetfahne prangte und martialische Reden aus den Lautsprechern tönten. Daneben gab es Serien von Fotos, die den Diktator in seinen Lebensphasen zeigten. Mein Russisch reichte aus, um die Lobpreisungen und Hymnen auf den Massenmörder zu verstehen. Auf meine Frage an die Leiterin der Gedenkstätte, ob sie denn nichts von den Verbrechen der Dreißiger- und Vierzigerjahre gehört habe, die Stalin befohlen hatte, zuckte sie nur kurz mit den Schultern und erklärte diese Informationen schlichtweg für falsch. Der „Archipel Gulag“ sei ein einziges Lügengebräu. Stalin sei ein großer Sohn des Volkes und verdiene diese Würdigung. Ich stellte mir augenblicklich vor, in Deutschland geschähe dergleichen auf dem Obersalzberg zu Ehren Hitlers….
Draußen, zur Rechten, stand ein kleines, windschiefes Hüttchen, das Stalins Geburtshaus symbolisierte. Zur widerwärtigen Verehrung eines Verbrechers gesellte sich der Kitsch der nachgeborenen Spießer!
Weiter im Westen, nahe der Schwarzmeerküste, folgten wir dem Lauf eines Flusses, der zum Meer führte und in dem zahlreiche Männer Gold schürften, durchaus erfolgreich. Dann bogen wir ab, fuhren einen Hügel hinauf und erblickten Mauerreste und Steinhügel. Hier also sollte die Burg von König Aietes gestanden haben, die Heimat seiner Tochter Medea, die Jason-irgendwann im 14. Jahrhundert v. Chr. - eroberte und sie mit den Argonauten gen Korinth entführte: Das „Goldene Vlies“ hat er sicher nie gesehen, wohl aber Medea verraten. Homer, Herodot, Euripides, Seneca, Grillparzer, Anouilh und unendlich viele andere haben Medea beschworen. Christa Wolf räumte wirkungsmächtig mit dem Mythos von der Kindesmörderin Medea auf. Pier Palo Pasolini hat ihr mit Maria Callas ein würdiges Denkmal im Film gesetzt.
Jetzt also stand ich am geschichtsträchtigen Ort und versuchte, dem Raunen des Windes eine Botschaft zu entlocken, was sich hier wohl zugetragen haben mochte, vor mehr als dreitausend Jahren. Es blieb beim Raunen. Geschichte erschließt sich, wenn überhaupt, nur in Metaphern.
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Auszug aus: Lutz Götze: Sprache – Zeitkritik – Erinnerungen. Rhetorische Miszellen, Berlin 2023, Verlag Frank & Timme, S. 233-235.
Lutz Götze